UteGlaser                                                                                                                                                E-Mail                    
Journalistin

 

Montag, 9. Januar 2007

Koelner Stadt-Anzeiger online - www.ksta.de

Mein Tag, Folge 317

"Ich kann mich nicht in die Ecke setzen"

Anneliese Chulek (80), pensionierte Grundschullehrerin in Kürten, lehrt seit rund 40 Jahren das Melodica-Spiel.

Dienstags ist mein Melodica-Tag. Dann bin ich um 12 Uhr in der Grundschule Kürten-Olpe, um zu unterrichten. Das ist eine freiwillige Sache, und 18 Kinder machen mit, manche schon seit der zweiten Klasse. Am Abend vorher bereite ich mich vor. Früher habe ich die Noten an die Tafel geschrieben, und die Schüler mussten sie abschreiben. Seit es Fotokopierer gibt, ist das viel einfacher, jetzt kopiere ich die Arbeitsblätter immer erst kurz vor der Melodica-Stunde. Natürlich mit einem kleinen Vorrat, denn oft heißt es: „Das Blatt habe ich aber nicht gekriegt!“

Musik ist für mich sehr wichtig. Mein erstes Instrument war eine Mundharmonika, das zweite eine Ziehharmonika. Und da es in meinem Elternhaus ein Klavier gab, musste ich das auch lernen. Weihnachten spielte mein Vater Geige und meine Mutter Klavier. Mit ihr musste ich vierhändig die „Petersburger Schlittenfahrt“ üben, und mein Vater stand dahinter und klopfte den Takt. Dann bekam ich irgendwann ein Akkordeon, und damit spiele ich noch heute. Eines Tages, ich war noch an der einklassigen Volksschule in Kürten-Forsten Lehrerin, erhielt ich eine Melodica als Werbegeschenk geschickt. Das war vor 1968, denn in dem Jahr wurde die Zwergschule geschlossen, und ich wechselte ein Dorf weiter. Ich kannte das Instrument gar nicht. Aber durch meinen Klavierunterricht waren mit die Tasten schnell vertraut. Ich wollte die Melodica im Unterricht einsetzen, doch sie hatte einen Nachteil: Ich konnte, wenn ich auf ihr spielte, nicht reden oder singen. So kam es, dass ich Melodica als freiwillige AG anbot.

Zu meinem Erstaunen waren die Eltern sehr schnell bereit, ihren Kindern ein Instrument zu kaufen, das damals um 50 D-Mark kostete. Das war vor 40 Jahren sehr viel Geld. Heute kostet es um 80 Euro, aber viele kaufen es gebraucht. Ich habe schon ein paar Mal gesagt: „Mit dieser Gruppe höre ich auf.“ Als ich 1986 in Pension ging, meinte ich es wirklich ernst. Aber die Schule war 40 Jahre lang mein Leben, und ich habe mit der Melodica-AG weitergemacht, um noch einen Fuß in der Schule zu haben und mich nicht ganz verabschieden zu müssen.

Jetzt mache ich Jahr um Jahr weiter, weil es mir Spaß macht, mit den Kindern zusammen zu sein. Sie sind eine Anregung für mich, die über den Alltag hinausgeht. Nicht immer sind 18 in der Gruppe, es waren auch mal nur zwei oder drei. In all den Jahren habe ich gemerkt, dass sich das Liedgut der Kinder verändert hat. Sie haben auch nicht mehr so viel Zeit, müssen ständig wohin. Ich kann mich nicht mit einer Musikschule vergleichen, aber ich möchte die Kinder an die Musik heranführen, und manche spielen inzwischen im Musikverein.

Am Melodica-Dienstag muss ich immer alles gut planen, damit ich meinen Mann, der im Rollstuhl sitzt, gut aufgehoben weiß und schnell das Essen auf dem Tisch habe, wenn ich kurz nach 13 Uhr nach Hause komme. Erholen muss ich mich von den Schülern eigentlich nicht, auch wenn sie an manchen Tagen sehr quirlig sind. Allerdings besuche ich die alten Leute, zu denen ich im Rahmen des Besuchsdiensts der evangelischen Kirchengemeinde gehe, dann lieber an anderen Tagen. Ich denke manchmal: Musst du dies oder das in dem Alter noch machen? Aber dann vergesse ich die Frage und mache es. Ich kann mir nicht vorstellen, gar nichts zu tun und mich in die Ecke zu setzen und zu warten - worauf denn?

AUFGEZEICHNET VON UTE GLASER

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