UteGlaser                                                                                                                                                E-Mail                    
Journalistin

 

"Frühförderung - Früh übt sich, wer gesund sein will"
Beitrag in "Köln - Blick auf 2003. Ein Jahrbuch"
Seite 128 - 133
Jahrbuch hrsg. von Anne Siebertz und Martina Schönhals,
J. P. Bachem Verlag, 2002
144 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
10 Euro
ISBN 3-7616-1596-5
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Mein Text mit Serviceadressen

 
Die Zahl der Kinder mit psycho-organischen Gesundheits- und Verhaltensstörungen wächst stetig. Eltern, Ärzte, Erzieher und Lehrer sind oft ratlos. Es gibt Hilfen, doch mehr Aufklärung tut not. 2003 will das Kölner Qualitätsforum ein Gütesiegel für Therapieeinrichtungen entwickeln. Es wird für alle diejenigen, die mit HKS/ADS-Kindern arbeiten, Standards für Behandlungen und Fortbildungen festlegen.

Julia wühlt lachend im Matsch: Sie schult ihre Motorik, weil sie körperbehindert ist. Mirko versucht sich an lustigen Zungenbrechern: Er verbessert seine Aussprache wegen einer Sprachstörung. Stefan hängt am Seil in der Kletterwand: Er lernt, Vertrauen zu seinem Seilpartner aufzubauen, weil ihn eine Verhaltensstörung isoliert. Und ihre Eltern? Sie sind im Gespräch mit den Therapeuten ihrer Kinder: Sie möchten ihre „auffälligen“ Sprösslinge fördern und lernen, den gemeinsamen Alltag reibungsloser zu gestalten.

„Frühförderung“ heißt das Zauberwort, von dem genervte Eltern von Kindern mit unterschiedlichsten Behinderungen und Störungen sich kleine Wunder erhoffen. Doch die Frühförderstellen, die mit interdisziplinären Therapieplänen den Defiziten der Kinder und Jugendlichen zu Leibe rücken, sind kein Reparaturservice. Vielmehr geht es darum, dass Kinder Kompensationsmöglichkeiten entwickeln, mit ihren Handicaps zu leben lernen und gemeinsam mit Eltern, Erziehern oder Lehrern einen stressfreieren Umgang einüben. Unter solch fachkundiger Anleitung wächst sich dann sogar manches Fehlverhalten tatsächlich aus.

In Köln gibt es drei Einrichtungen für Frühförderung: das Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung gGmbH (ZFF) mit sechs Außenstellen in verschiedenen Stadtteilen, das Kölner Therapiezentrum (tz) mit drei Außenstellen und das Kinderzentrum Porz. Während das ZFF die klassische Patientengruppe von Frühgeburt bis Einschulung abdeckt, kümmert sich das tz ausschließlich um Schulkinder. Das Kinderzentrum Porz deckt die komplette Altersspanne von 0 bis 17 Jahre ab. Die Wurzeln dieser Einrichtungen, die sich Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger Jahre aus Vereinen entwickelt haben, reichen bis in die 1970er Jahre zurück.

Trotzdem sei Frühförderung in Köln immer „noch ziemlich unbekannt“, bedauert Dr. Tordis Horstmann, Leiterin des ZFF. Nach wie vor kämen die meisten Patienten über Mund-zu-Mund-Propaganda.

Wäre künftig also mehr Öffentlichkeitsarbeit nötig? Einerseits ja, meint tz-Leiter Alfred Getz. Denn es ist grundsätzlich gut, wenn Eltern mit einem hyperaktiven oder stotternden Kind wissen, so sie Hilfe finden können. Andererseits meint Getz: „Wenn ich mich mehr bekannt mache, warten die Kinder noch länger.“

Die drei Kölner Frühförderzentren verfügen gemeinsam über 3370 Plätze. Dass diese keinesfalls den Bedarf decken, wissen alle. Vermutlich wird sich die Situation künftig sogar noch zuspitzen, denn mit besserer Diagnostik und zunehmenden Verhaltensstörungen wächst das Patientenpotential weiter.

Lange Wartezeiten und falsche Diagnose

„Der Notstand in Köln ist groß“, meint Getz. Obwohl das tz 1992 gegründet worden sei, habe es immer noch eine Art Modellfunktion. „Auch etwas Alibifunktion.“ Wie groß der Notstand ist? Der Gesundheitsbericht der Stadt Köln von 1992 geht davon aus, dass 38 000 Kinder und Jugendliche im Raum Köln psycho-organische Gesundheits- und Verhaltensstörungen haben. Ein Schätzwert. Wissenschaftlich gesichert ist nur, dass von den derzeit rund 160 000 Kindern und Jugendlichen in Köln etwa 8000 am ADS/HKS-Syndrom leiden. Diese Betroffenen hätten „auf jeden Fall eine Dauerbehandlung nötig“, sagt Dr. Horstmann. Sie schätzt, dass insgesamt zehn bis zwölf Prozent der Altersgruppe 0 bis 18 Jahre „auffällig“ seien und zumindest vorübergehend Hilfe nötig hätten – also über 16 000 junge Menschen. „In sozial belasteten Stadtteilen sind die Zahlen noch höher, bis 15 Prozent.“

Nicht nur mehr Therapieplätze, sondern auch kürzere Wartezeiten und schnellere Wege halten die Frühförderer für dringend notwendig. „Viele Eltern klagen über lange Wartezeiten“, bestätigt Brigitte Noack von der Familienberatung der Stadt Köln, die mit dem 2001 gegründeten Kölner Qualitätsforum die Vernetzung bei ADS/HKS-Syndrom fördern will. „Gängig ist ein halbes Jahr, wenn man überhaupt eine diagnostische Anlaufstelle findet.“ Ist die Schwachstelle diagnostiziert, vergehen meist nochmals Monate, bis ein Therapieplatz frei ist. Diese Warterei kann verhängnisvoll sein, denn sie erweckt bei Eltern den Eindruck, die Hilfe sei gar nicht dringlich. Außerdem verfestigen sich beim Patienten die Auffälligkeiten und Störungen weiter, führen möglicherweise sogar zu neuen Problemfeldern. Denn ein Kind, das nicht gut spricht, zieht sich zunächst vielleicht zurück. Fühlt es sich von der Umwelt missverstanden, kann zunehmend aggressives Verhalten hinzukommen.

Ein Handicap für frühe Frühförderung ist neben der Wartezeit auch die Verordnungspflicht. Bislang ist eine Verordnung des Kinderarztes nötig, um ein Kind in einer Kölner Frühförder-Einrichtung vorzustellen. Leider – da sind sich alle Leiter einig – fehle den Ärzten oft die nötige Zeit sowie die Spezialausbildung für die Diagnostik. Auch Brigitte Noack bedauert, dass „viele Ärzte falsch diagnostizieren oder auf Abwarten plädieren“. Sieht der Arzt den Förderbedarf nicht, ist er per definitionem auch nicht da. Den Eltern bleibt so der Zugang zu Hilfen verwehrt.

Die Aufklärung sollte auch bei Erziehern und Lehrern verbessert werden, fordern die Frühförderstellen. Sie kritisieren, dass das Erkennen gestörter und auffälliger Kinder sowie der Umgang mit ihnen bisher in keine Ausbildung integriert ist. Die Hälfte aller Kinder sind über fünf Jahre alt, bis sie erstmals interdisziplinäre Frühförderung erhalten. Viele Verhaltensweisen sind dann bereits verfestigt und lassen sich nur schwer ändern.

Der hohe Altersschnitt liegt aber nicht nur allein an Versäumnissen von Ärzten und Erziehern oder an langen Wartezeiten auf Therapieplätze. Ein Grund sind auch die sozialen Verhältnisse. Eine Untersuchung von 1998 zeigt, dass in Köln die U9 von insgesamt 61 Prozent der Kinder wahrgenommen wurde, bei Kindern aus Familien ohne eigenes Einkommen lag der Schnitt jedoch bei nur 27 Prozent. Bei den Einschulungsuntersuchungen besaßen neun Prozent der deutschen Kinder und 59 Prozent der ausländischen Kinder kein Vorsorgeheft.

Einhellig halten die Kölner Frühförderstellen daher eine stärkere Niederschwelligkeit ihrer Angebote für notwendig. Ideal fänden sie eine diagnostische Anlaufstelle, bei der Eltern ihr Kind ohne Verordnung kurzfristig vorstellen dürften. Diese fachkundige Stelle könnte Hinweise zu sinnvollen diagnostischen und therapeutischen Ansätzen für das Kind geben. Vielleicht sogar zunächst einmal nur den Besuch des Ohrenarztes empfehlen, denn es kommt vor, dass Eltern monatelang auf einen Diagnose-Termin im Frühförderzentrum warten und sich dort herausstellt, dass das „gestörte“ Kind nur schlecht hört.

Das Sozialgesetzbuch IX, das alle Gesetze zur Rehabilitation neu zusammenfasst und seit Sommer 2002 umgesetzt wird, sieht eigentlich das vor, was die Frühförderstellen für sinnvoll halten: Eltern sollen ohne Verordnung eigenständig bei Frühförder-Einrichtungen vorsprechen dürfen nach dem Motto „Hier ist mein Kind, gucken Sie sich das mal  an, ich werde mit ihm nicht mehr fertig“. Doch die Umsetzung in die Praxis dauere wohl noch Jahre, befürchten die Kölner Frühförder-Experten. Denn der Knackpunkt ist: Wer soll das bezahlen?

Tauziehen um Finanzierung

Krankenkassen und Kommune schieben Kostenfragen hin und her. Wer zahlt was? Dieses Auseinanderdividieren der Kosten halten die Leiter der Frühförderzentren für falsch, weil es den komplexen Störungsbildern und den ganzheitlichen Heilungswegen nicht gerecht wird. Sie machen Elternberatungen, beobachten Schulstunden, führen Gespräche mit Erziehern und Lehrern. Der Patient, das ist für sie Gebot, muss als ganzer Mensch gesehen werden – in seiner Familie und seinem Umfeld. Entsprechend komplex sollten Leistungsangebote abgerechnet werden, fordern die Frühförderer.

„Eine gute Frühförderung sollte man nicht nach den Abrechnungsmodalitäten ausrichten, sondern nach dem, was das Kind braucht“, wünscht sich Arnulf Böhm, fachlicher Leiter des Kinderzentrums Porz. Als Psychologe und Psychotherapeut hofft er zudem auf eine stärkere Berücksichtigung dieser beiden Fachgebiete innerhalb der Frühförderung. Denn bei Kindern mit Entwicklungsdefiziten gelte ein erheblicher Teil der Arbeit den Müttern, um mit ihnen einen geeigneten Erziehungsstil zu entwickeln – beispielsweise einen weniger nachgiebigen. Wie oft psychologische Hilfe nötig ist? „Bei uns im Haus bei jedem dritten bis vierten Fall.“

Die gesellschaftliche Bedeutung von interdisziplinärer Frühförderung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ermöglicht oft einen Besuch von Regelkindergarten oder -schule, der ohne Behandlung unmöglich gewesen wäre.

Das auffällige Kind wird integriert und kann sich innerhalb statt außerhalb der gesellschaftlichen Normen Anerkennung verschaffen. Denn Kinder mit Defiziten entwickeln häufig die Neigung, sich auf Gebieten zu beweisen, die außerhalb der Norm liegen. Das bringt unter Umständen Konflikte mit dem Strafgesetzbuch. Kinder mit Entwicklungsrückständen könnten kein positives Selbstkonzept und oft auch keine befriedigenden Beziehungen aufbauen, weiß Dr. Horstmann. „So entwickeln sich Kinder, die im Vorschulalter mit dissozialem Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen, mangelndem Selbstwertgefühl oder fehlender sozialer Kompetenz auffallen, im Jugendalter nicht selten zu Außenseitern, die intensivere und kostenaufwendigere Hilfen benötigen.“

Unter diesem Gesichtspunkt hat Frühförderung nicht nur einen persönlichen und familiären Aspekt, sondern auch einen gesamtgesellschaftlichen. Frühzeitige Präventionsmaßnahmen, die die Lebenswelt der Kinder einbeziehen, können bei bestimmten Hochrisikogruppen die Delinquenz im Jugendalter um etwa die Hälfte senken, ergab eine Untersuchung von 1998. Zudem kosten frühe Förderungen nur ein Siebtel der Eingriffe bei Jugendlichen, ergab eine Studie von 1993.

Vor diesem Hintergrund verblüfft es, dass die gesamte interdisziplinäre Frühförderung in Köln von Vereinen getragen wird. Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung ruht auf dem Rücken einiger Ehrenamtlicher. Beim Kinderzentrum Porz arbeitet zudem die komplette Leitung ehrenamtlich – und damit gratis. Da schmerzt es besonders, dass beim Tauziehen zwischen Stadt und Krankenkassen um die Finanzierung Jahr für Jahr eine fünf- bis sechsstellige Summe ungedeckt bleibt. Eine unkalkulierbare Größe, an der Gehälter und Förderungen hängen. Eine Lücke, die die drei Frühförderzentren durch Spenden selber schließen müssen. Auch in diesem Punkt wünschen sie sich in Zukunft mehr Klarheit und Sicherheit. Zum Wohle der nächsten Generation.
Ute Glaser

   
Service - Kontakte
   
Das Kölner Qualitätsforum
wurde im Juni 2001 auf Initiative der Familienberatung der Stadt Köln und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gegründet. Ziel ist die Vernetzung der Angebote bei ADS/HKS-Syndrom für Betroffene.
   
Kölner Qualitätsforum
Familienberatung der Stadt Köln, Brigitte Noack
Sieversstraße 37-41
51103 Köln
Tel. O2 21 / 560 51 14
Fax 02 21 / 560 51 30
E-mail Familienberatung@stadt-koeln.de 

Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung gGmbH (ZFF)
Dr. Tordis Horstmann (Leitung und Geschäftsführung)

Kinderzentrum Porz
in: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Förderung der Kindesentwicklung e.V.
Arnulf Böhm (fachliche Leitung, ehrenamtlich)
Theodor-Heuss-Straße 76
51149 Köln
Tel. 0 22 03 / 93 25 55
Fax 0 22 03 / 93 25 57

tz – Kölner Therapiezentrum
im Verein zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Teilleistungsstörungen (MCD/HKS) e.V.
Alfred Getz (Leitung)
Wendelinstraße 64
50933 Köln
Tel. 02 21 / 49 11 400
Fax (02 21 / 49 11 464
E-Mail: tz-koeln@t-online.de
  
Infos:
www.fruehfoerderung.nrw.de

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